ALBRECHT DÜRER (1471 - Nürnberg - 1528) – Nemesis (Das große Glück) (Hercules at the Crossroads (or: The Effects of Jealousy))
Prachtvoller, gegensatzreicher, in den dunklen Partien reich getuschter Lebzeitenabzug, mit dem kurzen vertikalen Kratzer unter der Brücke, mit Grat in den dunklen Federspitzen und mit dem kurzen horizontalen Kratzer zwischen der Draperie und dem linken Oberschenkel sowie mit zarten Kratzern in den oberen Federn. Die dunklen Berge wirkungsreich und klar druckend, ohne Anzeichen von Abnutzung. Mit einem feinen Rändchen um die Plattenkante, unten mittig und an der linken Kante oben, knapp innerhalb dieser geschnitten.
Eines der programmatischen Hauptblätter des Nürnberger Meisters, das an Größe nur noch vom "Hl. Eustachius" übertroffen wird.
Nemesis, die griechische Göttin der Vergeltung, mit ausgebreiteten Schwingen und im Wind flatternden Gewandzipfeln auf einer Kugel in strenger Profilansicht stehend, gleitet majestätisch über eine alpine Landschaft, die in winzigen Details dargestellt, weit unten liegt. In ihren Händen hält sie Zügel und Zaumzeug und einen spätgotischen Birnpokal, ihre Attribute, um die Stolzen zu bestrafen und zu zügeln und die Gerechten zu belohnen. Nach Panofskys ikonologischen Studien, stammen diese Attribute aus Dürers Kenntnis des Gedichtes „Manto“ des toskanischen Dichters Angelo Poliziano (1454-1494), eine literarische Quelle, die der Künstler durch seinen Freund und Förderer Willibald Pirckheimer kannte.
Die Darstellung der Nemesis wurde als eine humanistische, weltliche Version der Apokalypse beschrieben. In der Tat fand Dürer im Geiste der Renaissance ähnliche Bilder für zwei scheinbar gegensätzliche Konzepte, für die christliche Offenbarung und die griechische Mythologie. In beiden Fällen, sowohl in der Apokalypse als auch im vorliegenden Kupferstich, ist das Bild in zwei Sphären unterteilt: ein irdisches und ein himmlisches Reich, in dem Engel und Dämonen kämpfen und Göttinnen herrschen.
Dass die Schicksalsgöttin für Dürer nicht nur eine literarische Figur war, geht aus seinen eigenen Schriften hervor. In seinem Tagebuch, das er in den Jahren 1520-21 in den Niederlanden führte, bezeichnete Dürer unvorhersehbare Ereignisse als das Wirken der „Fortuna“. Es ist eine bemerkenswert säkulare, moderne Vorstellung, dass der Lauf der Dinge nicht von Gott, sondern von einer solchen, unberechenbaren Instanz bestimmt wird. Die Berglandschaft wurde als Blick auf das Dorf Klausen im Eisacktal identifiziert, einer der wenigen eindeutig identifizierbaren Orte in Dürers gedrucktem Werk. – Verso entlang den Kanten das Papier minimal nachgedunkelt sowie mit einer verblassten Sammlernotation in brauner Feder rechts oben. In der rechten oberen Ecke ein schwacher Braunfleck. In der Landschaft unten mittig eine winzige Pappierfehlstelle, ansonsten sehr gut erhalten.
Selten so schön!
Bartsch 77; Meder 72 II a (von II f); Schoch/Mende/Scherbaum 33 II a (von II f).